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Interview mit Nadia Lichtig, Divergence FM, Grammaires Fantomes, November, 2023

Hydra vulgaris
Text: Miriam Bettin, 2022
                                                                   We ourselves are sea, sands, corals, seaweeds, beaches,
                                                                   tides, swimmers, children, waves . . . seas and mothers.
                                                                                             – Hélène Cixous & Catherine Clément  1


Hydra, ein  vielköpfiges Wesen der griechischen Mythologie, wird nachgesagt, unsterblich zu sein: verliert sie einen Kopf, wachsen ihr zwei neue. Ihr Hauch ist tödlich.
Die Wasserschlange ist namensgebend für den Süßwasserpolypen aus der Gattung der Nesseltiere der aquatischen Biologie: Hydra vulgaris ist von bräunlicher Färbung und misst 5 bis 15 mm Länge. Ihr Rumpf – vom Kranz bis zur Knospungszone – geht in den schwächer pigmentierten Stiel über und erweitert sich gleichmäßig um fünf bis 12 Tentakeln, die die doppelte Länge des Rumpfes erreichen können.
Neusten Erkenntnissen der Forschung zufolge, ist die Hydra vulgaris nicht nur bemerkenswert regenerationsfähig, sondern ihr wird auch, gleich ihrem mythologischen Vorbild, Unsterblichkeit zugesprochen. Die Süßwasserpolypen weisen keinen Alterungsprozess und Generationswechsel auf; es fehlt die sogenannte Medusengeneration. Hydren können mehrgeschlechtlich sein und besitzen zudem die Fähigkeit, sich ungeschlechtlich fortzupflanzen.
Jene Wesen, die paradigmatisch scheinen für ein Nachdenken über das Post-Anthropozän sind titel- und formgebend für Rosa Violetta Zettls Einzelausstellung im Neuen Kunstverein Wuppertal: Hydra als ein Gegenmodell zu hierarchischen und binären Gesellschaftsordnungen.
Zettls raumgreifende Installation umfasst ausbalancierende Bambus- und Glasrohre, Tonziegel und amorphe Skulpturen aus Keramik und Bronze, darunter prähistorisch anmutende Speerspitzen in Form von Korallen, Pilzen und Kristallen. In Regalsystemen versammeln sich allerhand organische Materialien: Flechten, Wespen- und Hornissennester, Straußeneier, Algen – einige Objekte sind auf mit Pflanzen und Metallen (Hibiskus, Brennnessel , Eisen) gefärbte Stoffkissen gebettet. In Form eines fluiden und symbiotischen Archivs, dem die Künstlerin stets neue Dinge hinzufügt oder hinterlässt, wirken die Fundstücke wie Relikte einer längst gewesenen Zeit oder Propheten einer noch bevorstehenden Zukunft.
Eine Reihe an neuen Aquarellen nimmt sich ganz konkret der vielgestaltigen Wasserpolypen an. Wasser ist das verbindende Element, das in Zettls Material- und Formsprache wiederholt auftaucht: Nicht nur besteht der Mensch aus bis zu 90 Prozent Wasser; Wasser, so Astrida Neimanis in ihren Überlegungen zum Hydrofeminismus, ist eine Einheit, individualisiert als unser Körper, und besitzt andere Logiken, andere Muster und Mittel, um unsere irdische Welt zu beleben und in Verbindung zu setzen: „Water flows through bodies, species and materialities, connecting them for better or worse.“  Als ein fließendes, immer in Bewegung befindliches Element, in dem andere physikalische Gesetze herrschen , öffnet es das Potential, demokratisch zu sein – länderübergreifend, artenübergreifend, körperübergreifend. Doch spätestens seit der Kolonialzeit, den jüngsten Menschenrechtverletzungen auf dem Mittelmeer und dem Klimawandel ist es auch ein Mittel der Kontrolle, der Macht und der geopolitischen Interessen. „On a geological scale, we have all arisen out of the same primordial soup, gestated by species upon watery species that have gifted their morphology to new iterations and articulations. (...) We are all bodies of water, in the constitutional, the genealogical, and the geographical sense.“


1 Hélène Cixous and Catherine Clément, “Sorties: Out and Out: Attacks/Ways Out/Forays”, in: The Newly Born Woman, trans. Betsy Wing, Minneapolis, 1986, S. 89.




Das Ökosystem als Sozialverband
Text: Laura Schreiner, 2017

Rosa Violetta Zettls Werk erinnert in erster Linie an das postmoderne philosophische Konzept der Rhizomatik, das seit den 70ern durch Deleuze und Guattari bekannt ist.
Die Rhizomatik beschreibt anhand des Rhizoms, zu griechisch: Wurzel, das Modell einer anti-hierarchischen Organisation von Wissen. Guattari nannte diesen Prozess, indem unterschiedliche Systeme in Austausch miteinander treten: Transversale Beziehungen. Zettls raumgreifende Installationen bedienen sich der Querverbindungen, die materielle Hierarchien überspringen beziehungsweise Elemente verbinden. Ihre Elemente befinden sich auf unterschiedlichen Ordnungsebenen; keines stellt den Anspruch anderen Elementen übergeordnet zu sein. Jene Ordnung schafft Rosa Violetta Zettl prozesshaft und intuitiv.
Die Frage des Gleichgewichts zwischen und unter den vorkommenden Materialien scheint oberste Priorität zu sein. Sie sind im Widerstreit mit tradierter Repräsentationspolitik der Materialien.
Somit kommt es vor, dass hochkulturelle Materialen wie etwa Keramik, als handgeformte und handgroße Formen Anordnungen von Beton, Holz, Gips, Glas, industriell gefertigte Bretter u.Ä. im Gleichgewicht halten, sowie vice versa, die sogenannten armen Materialen die intelligenten Materialen ausbalancieren. Sie bedienen sich nicht an einander aber sie fügen sich symbiotisch ineinander ein. Hier wird gelegt, gelehnt, geklemmt aber nicht fixiert, verschraubt, gebaut. Die Installationen sind temporäre Gesten, die verschwinden und wiederkehren. Die Geste als Verweis, losgelöst von Nutzbarkeit, auf eine andere Ökonomie.
Ein Modell eines Ökosystems als Sozialverband; keine Skulptur steht für sich alleine, sie ist durch ihre Umwelt eingebettet. Materialien sind in dieser Hinsicht kein zielgerichteter Lieferant von hierarchischer Logik, sondern existentiell in einem strukturellen Geflecht, organisiert und erfahrbar gemacht.

Interviews Nadia Lichtig, Liv Pedersen,
Texte Nila Jeep, Melanie Vogel, Susanne Jakubzcyk, Hartmuth Schweizer, Flora Linden

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